Ein Bett unter Kirchenglocken

Ein Bett unter Kirchenglocken

[ unbezahlte und unbeauftragte Werbung ]


Eine nahezu Respekt einflößende Ruhe. Doch da ein leises Klackern aus der Turmklause. Es kündigt den nächsten Glockenschlag an. Draußen ebbt allmählich der Feierabendverkehr ab. Das dicke Gemäuer lässt sonst nur wenig Geräusche ins Innere der Kirche, in der es langsam dunkel wird. Bisher scheue ich mich, im Kirchensaal die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Auf einen Schlag noch größer, noch unwirklicher, ja vielleicht sogar ein kleines bisschen unheimlich käme mir mein außergewöhnliches Quartier für die Nacht vor.


Es ist mein allererstes Mal im Thüringer Wald, und dann gleich so etwas.

Her(R)bergskirchen Thüringer Wald

Ich übernachte in der Lutherkirche von Tambach-Dietharz, einer 4300-Einwohner-Gemeinde am nordöstlichen Rand des Thüringer Waldes. Das 1350 erbaute und durch zwei Brände komplett zerstörte Gotteshaus ist eine von (derzeit) zwei offiziellen Her(R)bergskirchen. Sie befinden sich entlang des 168 km langen Rennsteigs, dem ältesten und meistbegangenen Weitwanderweg Deutschlands. Die zweite im Bunde - die Michaeliskirche in Neustadt am Rennsteig - wird mein nächster Schlafplatz sein.


Das Projekt »Her(R)bergskirchen Thüringer Wald« entstammt der Idee, kaum mehr genutzte Kirchen im Thüringer Wald in gelebte Gemeinschaftsräume zu verwandeln. Mit besonderen Erlebnissen wie Abendessen an der Dorftafel, Kino-Events oder Yogakursen für die ortsansässigen Bewohner:innen. Aber auch Radfahrern, Wanderern oder ruhesuchenden Großstädtern mit einem nachhaltigen Tourismuskonzept eine einzigartige Schlafmöglichkeit zu bieten: das Übernachten in alten Kirchengemäuern.

Ein Bett unter Kirchenglocken

Schlafquartier im Kirchturmzimmer

Ob ich denn nicht wenigstens eine Nacht in einem richtigen Hotel schlafen wolle, fragt mein Mann, bevor ich mich aufmache in den Thüringer Wald. „Nö“ entgegne ich, und fühle mich fast schon verwegen. Jetzt stehe ich mitten in der großen Kirche und frage mich selbst, ob es wohl eine schlaflose Nacht wird. Vielleicht. Aber vorerst beschäftigen mich noch so praktische Dinge wie der rote - und nach Alarmknopf aussehende - Schalter im Turmzimmer, in dem sich meine Holzbettstätte befindet. "Den mal besser nicht drücken", meint Anke Stirtzel, eine waschechte Tambacherin, die sich mit ihrer Kollegin ehrenamtlich um die Gästebetreuung in der Her(R)bergskirche kümmert. Man wisse nicht ganz genau was passiere, doch es könnten womöglich die Kirchenglocken losgehen.


Ich sitze am Abendbrottisch hinter den Kirchenbänken und knabbere verstohlen an meiner mitgebrachten Stulle. Ob das nicht respektlos ist? Der knurrende Magen siegt schließlich. Durch das Glasmosaikbild über dem Altar dringt das allerletzte Tageslicht. Besonders in der Christnacht sei es schön, die dort abgebildete Bergpredigt von außen zu betrachten, erzählt mir Anke bei meiner Ankunft. Wie schade, dass ich nicht an einem Dienstag angereist sei, dann probe sie hier nämlich mit dem ortsansässigen Posaunenchor. Die Idee von gemeinsamen Dinnerabenden kommt mir wieder in den Sinn und ich pelle mir ohne schlechtes Gewissen noch ein hart gekochtes Ei.

Ein Bett unter Kirchenglocken

Endlich mal wieder offline sein!

Keine meiner bisherigen Unterkünfte hat mir so viel Raum geboten, aber es ist mehr als das. Fast schon im Dunkeln senken sich Ruhe und Stille über mich und ich fühle mich nicht mutterseelenallein, sondern gut aufgehoben, sonderbar geborgen. Die einen suchen die Nähe zu Gott, andere einen ruhigen Ort ohne Ablenkung, an dem das Offline-sein eine neue Bedeutung bekommt.


Als ich die drei Stufen meiner Turmklause erklimme, den königsblauen Vorhang komplett um mein Bett ziehe, liege ich für einen klitzekleinen Moment wie auf einer lautlosen Luftmatratze im großen weiten Ozean. Und dann Getrippel auf dem Holzboden über mir. Mäuse? Ein Marder? Ich gebe zu: hier endet meine Verwegenheit, bin froh, Ohrstöpsel eingepackt zu haben und falle dankbarerweise in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ein Bett unter Kirchenglocken

Mit der dampfenden Teetasse in der Hand beobachte am nächsten Morgen wie die Sonne hinter dem Berg emporsteigt. Während das Mosaikfenster von unten zu leuchten beginnt, katapultieren mich die weltlichen Geräusche der einsetzenden Rush-Hour schneller als mir lieb ist ins Hier und Jetzt. Doch noch ist mein Her(R)bergskirchen-Abenteuer ja nicht zu Ende.

Unterwegs mit Goethe - und Opa

Am zweiten Tag meiner Reise in den Thüringer Wald mache ich mich auf Goethes Spuren, wandere bergauf und bergab von der Universitätsstadt Ilmenau bis nach Stützerbach. Die Blaubeerhaine oberhalb von Ilmenau erinnern mich an lang zurückliegende Blaubeerausflüge mit meinem Opa. Glücklichen Kindheitserinnerungen nachhängend, streife ich beinahe allein durch die ausgedehnten Wälder, vorbei an gurgelnden Bächen und sonnigen Bergwiesen, die einen weiten Blick auf dicht bewaldete Hügel freigeben. Betrachte das schöne Spiel von Licht und Schatten unter den Bäumen.

Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken

Der höchste Punkt Thüringens liegt nicht einmal auf 1000 Metern. Sonst vor allem in den bayerischen Voralpen unterwegs, fremdle ich mit der Tatsache, dass jedem Flecken ab 750 Höhenmetern ein "Berg-" vorgestellt wird. Sechs abwechslungsreiche Stunden und an die 800 verschwitzten Höhenmeter später bin ich aber drin im Duktus.


Auf der Zielgeraden kaufe ich mir im letzten Berg-, äh nein, Waldgasthof ein Finisher-Bierchen, das ich feierlich im Gras auf dem Stützerbacher Schlossberg genieße. Sonne. Wolken. Lange Grashalme, die träge im Wind schaukeln. Grillen zirpen um mich herum. Ein thüringischer Toskana-Augenblick.

Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken

Her(R)bergskirche der ersten Stunde

Mein zweites Nachtquartier ist also die Michaeliskirche in Neustadt am Rennsteig. Sie dient Wanderern schon seit 2017 als Übernachtungsmöglichkeit und liegt idealerweise direkt auf der Wanderroute. Horst Brettel, Her(R)bergskirchen-Mitstreiter der ersten Stunde händigt mir meinen 'Zimmerschlüssel' aus, Gemeindehaushälterin Christel Traut weist mich in die örtlichen Gegebenheiten ein. Mit einem wissenden Blick auf mein kurzärmeliges Shirt zeigt sie mir zunächst die Ersatz-Daunendecke. Ich werde ihr später noch dankbar sein.


Als ich die Tür von innen abschließe, wage ich erstmals, meinen Radius zu vergrößern. Steige die Stufen zur ersten Empore hinauf, zur zweiten und öffne links neben der Orgel ein Türchen, das mich in den Dachstuhl bringt. Im Kniestock des Daches ein Schnürchen nach dem anderen, die bis zum Glockenturm am Ende des Dachstuhls führen. Ich ahne, dass ich besser beraten bin, die Finger von den Strippen zu lassen.

Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken
Ein Bett unter Kirchenglocken

In der Michaeliskirche blickt man direkt vom Bett aus auf den Altar. Spiele nur kurz mit dem Gedanken heute mal 'offen' zu schlafen. Der aufgehenden Sonne dabei zuzusehen, wie sie Buntglasfenster und Erzengel zum Erleuchten bringt. Und schließe dann doch meinen royalblauen Kokon schützend um mich. Ein bisschen komisch ist es schon. Hier kann ich keine Tür hinter mir schließen. Habe ich da nicht ein Geräusch gehört? In der Toilette, die gleich um die Ecke liegt? Nein, da ist nichts. Schließlich gewöhne ich mich daran, dass ein Gotteshaus auch mal knackst und knarzt. Und denke, wie schön das eigentlich ist.


Nach langem Leerstand atmet die Michaeliskirche weiter, wird mit Leben gefüllt und hat so gute Pionierarbeit für das Projekt »Her(R)bergskirchen Thüringer Wald« geleistet, dass bis 2023 drei neue Her(R)bergen hinzukommen werden. Von Kirche zu Kirche wandern. Die Menschen vor Ort und ihre Geschichten kennenlernen. Keine Frage, die Idee zieht auch immer mehr jüngere Gäste mit unterschiedlicher Motivation an. Bei einigen stand der Thüringer Wald wohl bisher nicht an oberster Stelle ihrer Urlaubs-Bucket-List. Der Region stehen Konzepte, die beides können ziemlich gut zu Gesicht: nämlich solche, die das Gemeinschaftswohl der Bewohner:innen fördern aber auch gleichzeitig nachhaltig wirksame touristische Anreize geben.


Der Mann ist beratungsresistent, aber die Freundin ist schnell überzeugt von der himmlischen Pilgertour auf Deutschlands meistbegangenem Weitwanderweg. Spätestens 2023 wollen wir also zu zweit übernachten im Bett unter Kirchenglocken. Von den trippelnden Mäusen (?) habe ich ihr vorerst nichts erzählt...

Ein Bett unter Kirchenglocken

Links & Tipps

  • HER(RBERGSKIRCHEN THÜRINGER WALD ist ein Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen
  • Eine Übernachtung kostet ab 25 Euro
  • Nur in den Sommermonaten buchbar (es wird wirklich (!) kalt in der Nacht...)
  • Die Kirche steht zur alleinigen Nutzung zwischen 18 Uhr bis 9 Uhr am nächsten Tag zur Verfügung
  • Wer länger bleibt, kann seine persönlichen Gegenstände tagsüber in ein Schließfach sperren
  • Gebucht wird über: » HERRBERGSKIRCHEN.ORG «
  • Informationen zum Goethewanderweg findest du hier: » GOETHEWANDERUNG VON ILMENAU NACH STÜTZERBACH «



OFFENLEGUNG: Alle Erwähnungen stammen aus persönlich von mir zusammengestellten Quellen, für die ich kein Geld erhalte. Es handelt sich NICHT um bezahlte Kooperationen. Der obenstehende Text enthält KEINE Affiliate Links.

Bilder & Text: © hiersein