Winterreise - Deutschland in der kalten Jahreszeit
[ Gekürzter Gastbeitrag aus »Winterreise« von Autorin Alexandra Schlüter ]
Winterfarben im Blauen Land
Im Zickzack durch den Winterwald: Auf dem Weg oberhalb vom Walchensee stapfe ich hinauf zum Jochberg. An steileren Stellen geht es über Stufen, ich habe Grödel, ein Netz aus Gummi, Draht und Spikes unter meine Stiefel geschnallt. Im Schnee zeichnen sich Tierspuren ab, vielleicht die Fährte eines Rehs. Menschen, die sich auskennen, können in Spuren lesen wie in einem Winterskizzenbuch. Sie sehen, ob sich ein Tier ruhig oder auf der Flucht bewegt hat, erkennen den Unterschied zwischen Hase und schnürendem Fuchs, der eine ebenmäßige Spur wie eine Perlenschnur hinterlässt. Der Hase dagegen setzt seine Hinterläufe paarweise vor die Vorderläufe.
Es ist magisch, dass all die Wildtiere, die man so gut wie nie sieht, plötzlich Lebenszeichen hinterlassen. Als ob eine Winterfee uns daran erinnert, dass der Wald den Tieren gehört. Und diese sollten vor allem in der kalten Jahreszeit nicht gestört werden. Sie benötigen all ihre Energiereserven zum Überleben. Schalenwild wie Hirsche und Rehe findet bei hoher Schneedecke nur noch schwer die benötigte Nahrung. Die Tiere schränken ihren Bewegungsradius auf ein Minimum ein und verharren, wenn möglich, im Ruhezustand. Sie verringern ihre Körpertemperatur, fahren den Stoffwechsel hinunter und greifen auf ihre Fettreserven zurück.
Eine versteckte Höhle unter Baumwurzeln bietet kleinen Tieren Schutz, vielleicht einem Hermelin, der im Winter bis auf die schwarze Schwanzspitze ein schneeweißes Fell trägt. Der nachtaktive Räuber muss mindestens zwei Mäuse am Tag erbeuten, um gut durch die kalte Jahreszeit zu kommen. Auch in den Hohlräumen zwischen Schneedecke und Boden spielt sich mehr Leben ab, als man denkt. Schnee bietet eine gute Isolierung, das nutzten schon die Inuit beim Bau ihrer Iglus. Mäuse sind unter der weißen Decke geschützt vor Greifvögeln und Füchsen, allerdings nicht vor Mauswieseln, die ebenfalls keinen Winterschlaf halten und unter der Schneedecke jagen.

Der Wald öffnet sich zur felsigen Bergflanke hin, die senkrecht zum Tal abfällt. Der Vorhang geht auf zum Blauen Land, in dem das Licht alles mit einem sanften Filter überzieht. Dieser Landstrich im Bayerischen Voralpenland hat etliche Maler und Malerinnen angezogen, darunter Franz Marc, der in Kochel lebte. 1911/12 gründete er mit Wassily Kandinsky die Künstlervereinigung „Blauer Reiter“. Im nahen Franz Marc Museum sind viele ihrer Werke ausgestellt. (...)
Je höher ich komme, desto stärker weht es. Es klingt, als würde jemand auf einer Waldharfe spielen. Es zeigen sich die ersten Latschenkiefern, wundersame Alpenbäume, die in ausgesetzter Lage, oft an der Waldgrenze wachsen. Die buschartigen Bäume werden bis zu drei Meter hoch und können bis zu 300 Jahre alt werden. Mit ihren biegsamen Ästen halten sie erstaunliche Schneelasten aus. Unter den dichten Zweigen finden Alpentiere wie die Schneemaus Schutz. Latschen bilden einen wichtigen Erosions- und Lawinenschutz. Es sind Heilbäume, im Volksmund Bergsegen genannt. Aus ihren Nadeln wird Öl gewonnen, das bei Erkältungen und gegen Muskelschmerzen hilft. Ihr Duft weckt Lebensgeister und die Sehnsucht nach den Bergen.

Es gibt noch eine andere Bergkiefernart, mit der Latschen leicht verwechselt werden: Zirben (in der Schweiz Arven genannt). Sie wachsen ebenfalls langsam und werden bis zu 25 Meter hoch. Die genügsamen Bäume überstehen Fröste von bis zu –40 Grad und können mehrere Hundert Jahre alt werden. Zirbenwälder, aus denen im Herbst verfärbte Lärchen wie Fackeln leuchten, sind märchenhaft. Die Samen in den Zapfen sind eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel wie den Tannenhäher. Im Herbst beginnt er um die 100 000 Zirbennüsse an bis zu 7000 verschiedenen Plätzen zu verstecken. An die meisten seiner Verstecke erinnert er sich. Sein Nest baut der Tannenhäher früh im Jahr hoch oben in Nadelbäumen, möglichst nah am Stamm, wo es vor Schnee geschützt ist.
Föhn treibt die Wolken über den Himmel. Ich schlängele mich durch ein Gatter, durch das Menschen, nicht aber Kühe gelangen können. Das Vieh wurde im Herbst ins Tal hinabgetrieben. Oft wird es beim Almabtrieb festlich geschmückt und im Tal von Einheimischen und Touristen begrüßt. Ein alter Brauch, der wie so viele andere Winterbräuche in Bayern noch lebendig ist. Dazu gehört auch Eisstockschießen auf den zugefrorenen Weihern. Oder die Maschkera (Betonung auf dem „a“) in Orten wie Mittenwald. Bei dem Umzug am Unsinnigen Donnerstag, dem Donnerstag vor Aschermittwoch, wecken Goaslschnalzer und Pfannenziacher die Frühlingsgeister. Sie tragen handgeschnitzte Masken und läuten mit Kuhglocken und Schellen.

Ein schneidender Wind empfängt mich, sobald ich den Wald verlasse. Er bläst die Ohrenklappen meiner Mütze hoch. Vor mir faltet sich das Karwendel auf, schneebedeckte Gipfel bis zum Horizont. Ich drehe mich um und auch dort ist das Panorama atemberaubend. Im Tal glänzen Kochel- und Walchensee wie zwei dunkelblaue Augen. Wie die meisten voralpenländischen Seen wurden sie von eiszeitlichen Gletschern geformt.
Eine Fichte ist über und über mit Schneekugeln geschmückt, alles Natur, aber sie sieht aus wie ein Kunstwerk. Dass man sich Schnee auch anders als mit Pinsel und Leinwand nähern kann, zeigt der britische Land-Art-Künstler Andy Goldsworthy. In seinen Natur-Kunstwerken verwendet er natürliche Materialien, deren Vergänglichkeit Teil seiner Projekte ist. Im Sommer 2000 platzierte er 13 im Durchmesser etwa 1,5 Meter große Schneebälle auf Londons Straßen. In seinem Buch Midsummer Snowballs (2001) hielt er den Schmelzprozess und die Reaktionen der überraschten Passanten fotografisch fest.

Der Winter ist für Künstler und Betrachter immer auch Projektionsfläche. Wer ihn mag, für den ist das Schneeweiß ein Neuanfang, ein Versprechen, und Winterszenen sind ein Vergnügen. Auf den Bildern des zeitgenössischen britischen Künstlers Peter Doig etwa wirken Skifahrer fast impressionistisch hingetupft. Wer mit Frost und Schnee nicht viel anfangen kann, für den symbolisieren sie Einsamkeit und Verzweiflung.
Ich wandere weiter Richtung Jochberggipfel an Latschen vorbei, die sich an Felsklippen klammern. Auf der anderen Seite des Pfads neigt sich die Kuppe sanfter ins Tal. Dort verbergen sich Almwiesen unter der Schneedecke. Auf den Südhängen werden ab März Bergblumen wie Frühlingsenziane, auch Schusternagerl genannt, blühen. Die Stängel der Frühblüher sind kurz, damit sie bei einem erneuten Wintereinbruch nicht abknicken.
Auf 1565 Metern steht das Gipfelkreuz. Nach Osten hin schaut man bis ins Tegernseer Land. Im Westen erstreckt sich das Wettersteingebirge. Zu meinen Füßen liegt auf 1382 Metern die Jocheralm. Zu ihr steige ich hinab. Die Fensterläden sind geschlossen, die Hütte öffnet erst wieder Ende Mai. Es gab schon Jahre, in denen es sogar Anfang Juni noch geschneit hat. Auf dem aufgeschichteten Holz an der Hauswand finde ich einen Sitzplatz, der nach Süden ausgerichtet ist. Dort packe ich meine Brotzeit aus und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen.

Zur Autorin:
Alexandra Schlüter schreibt als Sachbuchautorin über Natur- und Reisethemen. Im Stil des klassischen Nature Writing verbindet sie dabei oft persönliche Naturerlebnisse mit Wissenswertem über Flora und Fauna sowie kulturgeschichtlichen Themen. Ihre Reportagen erschienen unter anderem in der Süddeutsche Zeitung und in National Geographic. Sie veröffentlichte bereits sechs Bücher, in denen sie dazu inspiriert, selbst mit offenen Sinnen loszuziehen. Ihre Winterreise ist nicht zuletzt eine Hommage an die schneereichen Winter ihrer Kindheit: Die Autorin wuchs in Oberbayern auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide, deren Stille und Weite im Winter besonders beeindruckend sind. Einen Teil der Fotos in ihren Büchern fotografiert sie selbst.

Winterreise
Autorin: Alexandra Schlüter
Prestel Verlag
gebunden, 208 Seiten, 150 farbige Abbildungen
36 Euro
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Foto »Eisstöcke«: © picture alliance (ROHA-Fotothek Fürmann/Shotshop) | Foto »Karwendel/Zugspitze mit Vogel«: © picture alliance (dpa/Sina Schuldt) | restliche Fotos: © Alexandra Schlüter